Dienstag, 20. Juni 2017

Wieso eigentlich Espiritual?

Cesantes - Armenteira (36,8 km)

Für 5:30 Uhr habe ich meinen Wecker gestellt, aber meine innere Uhr hat mich bereits eine gute Viertelstunde vorher wach werden lassen. Ich schaffe möglichst geräuschlos meine Ausrüstung in einen der beiden Speisesäle, schließe die Türe und beginne mich für den Abmarsch fertig zu machen. Kurz darauf ertönt ein anderer, unangenehmer Wecker, der gefühlt unendlich lang seiner Tätigkeit nachgeht, bis er endlich gestoppt wird. Danach beginnt ein Schauspiel, das seinesgleichen sucht. Nacheinander erscheinen sechs schlaftrunkene spanische Pilger, die ebenfalls ihre sieben Sachen zusammenpacken, das aber mit einer Lautstärke, die unter aller Kanone ist. Zudem halten sie es nicht für nötig, ihre Gespräche so zu dämpfen, dass die noch schlafenden Pilger nicht gestört werden. Während ich mich in dem anderen Speisezimmer zum Frühstück setze und einen Eintrag ins Gästebuch schreibe, wird die Tür aufgerissen und die Spanier stürzen herein. Sie sind immer noch nicht in der Lage, Rücksicht auf die anderen zu nehmen und lassen zudem noch die Türe zum Schlafsaal weit offen. Ich kann nur den Kopf schütteln und schäme mich fast für sie. Ich habe genug davon, und schließe einfach die Tür. Als dann ein weiterer Spanier den Raum betritt und wieder die Türe offen lässt, schließe ich sie zum zweiten Mal und werfe den Herrschaften einen bösen Blick zu. Ich glaube, jetzt haben sie endlich verstanden, dass sie nicht alleine hier sind.
In der Zwischenzeit ist auch Ben aufgestanden und hat sich fertig gemacht. Wir starten gemeinsam gegen 6:15 Uhr in die Dunkelheit. Es dauert aber auch nur einige wenige hundert Meter, bis die Dämmerung beginnt, so dass wir keine zusätzliche Beleuchtung benötigen. Auf der Strecke sind schon einige Pilger unterwegs, die wir überholen. Mitten im Wald treffen wir auf eine Verpflegungsstelle, von der sich gerade circa 20 Uhr Engländerinnen mit Tagesrucksäcken aufmachen. Auf diesem ersten Streckenabschnitt haben wir schon den ein oder anderen Höhenmeter zu absolvieren. Durch unser intensives Gespräch vergeht die Zeit aber wie im Fluge.
Der von Ben anvisierte Kiosk für seine erste Pause scheint aber nicht zu existieren oder die Strecke wurde inzwischen verlegt. So dauert es zu dem kleinen Örtchen O Pombal, wo wir einen Hinweis auf eine Bar finden. Wir folgen dem Tipp und sind erfreut, dass tatsächlich geöffnet ist. Davor hat sich bereits Gruppe von Pilgerinnen breitgemacht. Nach einem großen Café  con leche verabschiede ich mich dann endgültig von Ben. Es war gut, dass ich die ersten 12,5 km in seinem Tempo mitgelaufen bin, denn ich habe ja jetzt noch 21 km mit einigen Höhenmetern vor mir. Wir werden die Tage in Verbindung bleiben und, wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja in Santiago noch einmal.
Ich marschiere zunächst wieder zurück auf den Camino und hole mir in der Capilla Santa Marta noch einen Stempel ab. Dann laufe ich entlang der Straße bis zu einer Abzweigung, an der man nicht so genau weiß wo man her laufen soll. Die Markierungen führen sowohl geradeaus als auch nach links zu dem kleinen Rio Tomesa. Ein Blick auf meine Karte zeigt mir, dass die Route am Rio sicherlich interessanter ist, als die von Jörg und mir  vor zwei Jahren genutzte Straße. Nach nur wenigen Schritten stelle ich zudem fest, dass die gelben Pfeil auch hier weitergehen. Allerdings sind die die meisten in Richtung Rio teilweise schwarz übermalt. Man will also nicht, dass hier entlang gelaufen wird. Ich verstehe das nicht, denn dieser Abschnitt ist sehr schattig, attraktiv und vor allem naturbelassenen.
Um 10:35 Uhr laufe ich in Pontevedra unmittelbar an der Pilgerherberge ein und begeb mich direkt zur Capela da Virxe Peregrina de Pontevedra. Auf meinem Weg aus der Stadt heraus besuche ich noch die Igrexa de San Francisco sowie die Real Basilica de Santa Maria a Major.
In einem Supermarkt kaufe ich mir noch etwas zu Essen und vor allem Getränke. Zwischendurch erreicht mich eine Nachricht von Ben: er wartet zusammen mit Lija und Monika auf die Öffnung der Herberge in Pontevedra.
Dann begebe mich endlich auf die Variante Espiritual. Um dorthin zu gelangen, habe ich eine Abkürzung gewählt, um nicht noch aus Pontevedra herauslaufen zu müssen, um dort den Startpunkt zu finden. Bis ich wieder Markierungen entdecke, dauert es rund fünf Kilometer,  und das überwiegen in der prallen Sonne. Ich versuche jedes kleine bisschen Schatten auszunutzen, das mir geboten wird. Am Monasterio de Poio will ich eigentlich meine nächste Pause einlegen, schaue mir aber lieber noch die lohnenswerte Kirche und die beiden Kreuzgänge an.
Erst danach setzte ich mich unter einen schattigen Baum und verzehre meine Vesper. Dann geht es weiter über Combarro und anschließend in die Höhe. Ich befinde mich fast auf der Höhe des  Meeresspiegels und auf dem kommenden Abschnitt überwinde ich auf kürzester Distanz einen Unterschied von rund zweihundert Metern. Ich bin natürlich so schlau und nutze die ein oder andere Abkürzung, um Wegstrecke einzusparen. Zumeist sind jedoch diese Abkürzungen in der Regel deutlich steiler wie der eigentliche Weg.
Meine nächste Pause lege ich gegen 15:00 Uhr auf einer Höhe von 220 Metern ein. Es fehlen mir bis zum höchsten Punkt aber noch immer zweihundert weitere. Die Bezeichnung Variante Espiritual erscheint mir momentan sehr fragwürdig, die derzeitige Streckenführung gleicht eher einem Büßerweg, und mir fällt gerade nichts ein, wofür ich Buße tun soll. Die nächste Kurve bietet daraufhin wie bestellt eine Aussichtsplattform mit einem traumhaften Blick hinunter in die Bucht von Poio. Eine Hinweistafel bestätigt meine Vermutung, dass es bis zur Herberge noch rund fünf Kilometer sind. Trotzdem laufe ich immer noch mitten in der Sonne, habe heute bereits fünf Liter Flüssigkeit zu mir genommen und nehme mir jetzt noch meine Zuckerreserve, eine Flasche Cola, vor.
Endlich geht es wieder abwärts und bin gegen 16:30 am Monasterio de Armenteira und ein paar Minuten später in der Herberge. Ich bin nur noch müde und bereite mir ein Fertiggericht aus dem Kühlautomaten zu und mache mich bettfein. Es war der bisher anstrengendste Tag auf den Camino.
In der Herberge gibt es heute eine internationale Mischung: Pilger aus Rumänien, Italien, Portugal, Niederlande, USA, Frankreich, Canada, Großbritannien.

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